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Zersplittert

Hier könnt ihr das komplette erste Kapitel von meiner Geschichte "Raven Southmore - Zersplittert" lesen.
Viel Spaß euch :)

(fragt mich bitte nicht, warum das hier so komisch formatiert ist, ich habe keine Ahnung)


„Menti, beeil dich!“
Flink flogen meine Finger über die dünnen Pappordner, nur beleuchtet vom Lichtkegel der Taschenlampe. An jeder Akte, die mir auffällig erschien, hielt ich inne und zog sie ein kleines Stück aus dem Aktenschrank. Ein kurzer Blick darauf, Kopfschütteln und weitersuchen. 
„Was dauert denn da so lange?“, zischte Clin und lugte um die Tür zu mir herum.
„Warte, ich habs gleich.“, gab ich zurück und steckte eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
„Beeil dich!“, meinte nun auch Woody und tippte ungeduldig mit den Fuß auf dem Boden.
Ich rollte mit den Augen und zog einen dicken Pappordner aus dem Aktenschrank. Die Worte Bryan Eastwood zierten das kleine Etikett am oberen rechten Rand. „Hab sie!“
„Ernsthaft?“, fragte Woody und schritt auf mich zu.
Ich nickte und legte den Ordner auf den Schreibtisch. Aufgeregt begann mein Kumpel in dem Ordner zu blättern, bis er die gesuchte Seite fand und sie herausriss. Das zerknüllte Blatt steckte er sich in die Gesäßtasche. 
„Ey beeilt euch. Ich höre die Schritte des Nachtwächters.“, wisperte Clin plötzlich und schaltete seine Taschenlampe aus. Auch Woody löschte das Licht und huschte geschwind Richtung Tür. „Mach hinne, Menti.“, warf er mir noch über die Schulter zu und verschwand nach links auf dem dunklen Gang.
Ein kurzer Schauer jagte mir über den Rücken, als ich ebenfalls die Schritte des Nachtwächters durch das leere Schulgebäude hallen hörte. Schnell verstaute ich den Pappordner wieder im Aktenschrank und schob ihn zu. Ob er jetzt an der richtigen Stelle war, war mir gerade total egal. Ich schaltete meine Taschenlampe aus und huschte aus der Tür des Direktorenzimmers. Danach bog ich links in den Gang ab. Meine Schritte hallten laut im leeren Gang und ich verlor beim Laufen die Orientierung, weil es einfach zu dunkel war.
Nach Luft schnappend kam ich zum Stehen und lehnte mich an die Wand. Durch ein Dachfenster fiel das fahle Licht des Halbmondes herein und erhellte den Gang ein wenig.
Wo sind Clin und Woody?, schoss es mir durch den Kopf.
Meine beiden Freunde hatte ich noch nicht wieder gesehen. Möglicherweise waren sie auch schon aus dem Gebäude raus oder vom Nachtwächter ertappt.
Fest entschlossen mich nicht erwischen zu lassen stieß ich mich von der Wand ab und fiel wieder in einen leichten Trab. Ich bog nach links, zweimal nach rechts und nochmals links ab. Es war echt eine blöde Idee von den beiden gewesen! Nachts in die Schule einbrechen um den neusten Akteneintrag von Woody zu entfernen. Und das nur, weil er keinen Eintrag in seiner Schulakte haben wollte, in dem es hieß, er habe sich geprügelt. Hallo?? Seine gesamte Akte ist voll von verschiedenen Straftaten. Clins ebenfalls. Meine auch. Na ja, meistens mache ich nur mit den beiden Jungen mit. Einfach weil wir Freunde sind.
Ich blickte vorsichtig auf den Hauptgang. Niemand zu sehen. Und der Ausgang war zum Greifen nah!
Ich jubelte innerlich und setzte zu einem kurzen Spurt an doch plötzlich legte sich eine schwere Hand um meinen Arm und zog mich zurück. 
„Was machst du hier?“, grummelte die tiefe Stimme des Nachtwächters und er leuchtete mit seiner Lampe direkt in mein Gesicht.
Ich blinzelte, wich dem Blick des Mannes jedoch nicht aus. „Würden Sie die Güte besitzen mir nicht direkt in die Augen zu leuchten?“
Augenblicklich sank der Lichtkegel und ich bemerkte das Grinsen im Gesicht des Mannes. „Oh, die junge Miss Southmore. Was war es denn diesmal? Hast du was geklaut oder wieder die Gänge mit Graffitis beschmiert?“
Ich schnaubte auf. Diesmal hatte ich wirklich nichts getan. Bin nur Mittläufer gewesen. Aber das würde dieser Typ mir eh nicht glauben. Also schwieg ich.
Der Nachtwächter lachte auf. „Oho, heute die Schweigsame? Mal sehen ob meine Freunde mehr aus dir rausbekommen.“
 
Mit angezogenen Knien saß ich auf der Bank im Polizeipräsidium.
Der Nachtwächter hatte mit seinem Handy seine Kollegen von der Wache angerufen und keine zehn Minuten später wurde ich in einen blausilbernen Wagen gesetzt. Die Polizistin am Lenkrad drehte sich zu mir um und lächelte. Sie hieß Jenna und hatte mich, Clin und Woody schon oft zur Polizeiwache gefahren. Diesmal saß ich jedoch allein im Wagen. Die Jungen waren dem Nachtwächter wohl entwischt.
Bei der Befragung hatte ich schweigsam dagesessen und keine der mir gestellten Fragen beantwortet. Warum auch? Glauben würde mir eh keiner. Hat noch nie und wird auch niemals jemand. Okay, Jenna hatte mir geglaubt. Aber da war sie auch die Einzige.
Ein kalter Wind umfing mich und ich begann zu zittern. Die Eingangstür des Präsidiums fiel ins Schloss und ich blickte in die kalten Augen meines Vaters. Schon vor langer Zeit war die Wärme in diesem Blick für immer verschwunden. 
„Clementina Raven Anna Southmore!“, donnerte er los und ich zog den Kopf zwischen die Schultern. „Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht mit solchem Gesindel abgeben?“
Ich wollte protestieren, doch er ließ mich erst gar nicht zu Wort kommen. 
„Darum wollte ich dich niemals auf eine staatliche Schule gehen lassen. Aber du wolltest ja unbedingt wie normale Kinder sein. Was das wieder kostet!“
„Du musst dir ja auch Sorgen um das liebe Geld machen!“, fauchte ich ihn an und richtete mich zu meiner vollen Größe auf.
Im ersten Moment schien er verwirrt. Dann jedoch hob er seine Hand, holte aus und scheuerte sie mir mitten ins Gesicht. Tränen schossen mir in die Augen, aber ich wollte vor meinem Vater keine Schwäche zeigen. Schnell blinzelte ich sie weg und blickte ihn trotzig an.
„Benimm dich in der Öffentlichkeit.“, sagte er und verließ das Polizeipräsidium durch die Tür. „Sieh doch selbst zu, wie du nach Hause kommst.“, hörte ich ihn noch zu mir hinüber schreien, als er in seinen schwarzen Mercedes einstieg und wegfuhr.
Seufzend ließ ich mich zurück auf die Bank zurück sinken und griff mit meiner Hand an die schmerzende Wange. Sie fühlte sich angeschwollen an und pulsierte. 
„Dreck!“, zischte ich und sprang auf. Ich stieß die Tür auf und sprang die wenigen Treppen zur Straße herab. Kalte Nachtluft umfing meinen Körper und ließ mich frösteln. Ich zog den Verschluss meiner Schlabberjacke höher und streifte die Kapuze über mein Haar. Dann begann ich zu laufen. Die Kühle der Nacht tat gut auf der schmerzenden Wange. Bei jedem Schritt, den ich tat, wuchs mein Zorn auf meinen Vater. Glaubte er wirklich, nur weil er Clemens Gregory Southmore, ein berühmter Milliardär und erfolgreicher Unternehmer war, konnte er sich alles erlauben?
Eine starke Windböe riss mir die Kapuze vom Kopf und löste ein paar der Haarnadeln, die mein Haar in verschiedenen Zöpfen verflochten hielten. Die Strähnen lösten sich und flogen in langen Wellen hinter mir her. Ich verlangsamte mein Tempo, kam zum Stehen. Die losen Strähnen wickelte ich um meinen Finger und fixierte sie wieder mit einer Haarnadel. Dann zog ich die Kapuze wieder tief ins Gesicht und lief weiter.
 
Kaum war ich zu Hause angekommen, rannte ich auch schon die Treppe hoch und schloss mich in meinem Zimmer ein. Die Schmerzen in meiner Wange waren zurückgekehrt, als mir die Wärme des Southmore-Anwesens entgegenschlug. Nun stiegen mir Tränen in die Augen, die ich eilig wegwischte.
Aus einer Schublade neben meinem Bett kramte ich nach einer schmerzlindernden Salbe. Seit meinem siebten Lebensjahr hatte ich mir regelmäßig Schmerzmittel in der Schublade gebunkert. Damit ich mich selbst versorgen konnte, wenn mein Vater mich geschlagen hatte. Und das hatte er oft. Weil ich nicht so war wie er mich wollte. Weil ich nicht so erfolgreich wirtschaften konnte wie er. Weil ich meiner Mutter zu ähnlich war.
Ich schmierte mir die Salbe auf die Wange und sog durch zusammengebissene Zähne die Luft ein. Ein kurzes Stechen in meiner malträtierten Gesichtshälfte, dann schwanden sämtliche Schmerzen.
Mit einem tiefen Seufzer blickte ich in den Spiegel, der neben der Tür zum Ankleidezimmer hing und betrachtete mein Gesicht. Die Schwellung wirkte mit der grünlichen Salbe etwas bizarr, jedoch war ich Schlimmeres von meinem Vater gewohnt und in ein paar Stunden würde - dank der Salbe - nichts mehr zu sehen sein. Die hellbraunen Strähnen meines Haares hingen mir in mein Gesicht und ich zog mit einem Seufzer die unzähligen Haarnadeln heraus. Meine Haare lösten sich aus ihren verflochtenen hochgesteckten Zöpfen und fielen nun leicht gekräuselt um meine Fußgelenke. Mit meiner Hand fuhr ich mir durch den schrägen Pony und betrachtete im Spiegel mein Haar.
Mein Vater hatte mir verboten es abzuschneiden. Ich würde sonst meiner Mutter zu ähnlich sehen, hatte  er gesagt. Sie trug ihre Haare immer kurz. Wie ein Junge. Nur eine Strähne war länger als die anderen. Und meistens trug sie darin Perlen oder Federn geflochten. Zumindest in meiner Erinnerung.
Meine Mutter Aenna starb, als ich gerade einmal sechs Jahre alt war. Bei einem Autounfall. So lautete es zumindest offiziell. Als Kind hatte ich aber von den Angestellten im Haus gehört, dass mein Vater meine Mutter mit einer viel jüngeren Frau betrogen und sie deshalb Selbstmord begangen hätte.
Kurz vor ihrem Tod hatte sie mir mein Geburtstagsgeschenk geben. Drei Wochen zu früh. Sie hatte mich ermahnt es erst zu öffnen, wenn ich allein in meinem Zimmer sei, an meinem Geburtstag. Dann ist sie gestorben. Und danach hat mein Vater angefangen mich zu schlagen. Immer wenn ich ihm nicht gehorchte oder etwas falsch machte. Oder ihn einfach an meine Mutter erinnerte.
Ich blickte das Mädchen im Spiegel an. Ihre braunen Augen starrten mir müde aber stark und unbezwungen entgegen. Dieses Mädchen war ich.
Meine Finger berührten die Finger meines Spiegelbildes. Fuhren langsam an der kalten Oberfläche herab.
„Junges Fräulein, möchten Sie etwas essen?“, fragte die vertraute Stimme unseres Butlers Bishop.
Ich nahm ein Haargummi von meinem Schminktisch neben dem Spiegel und knotete meine Haarpracht zu einem leichten Knoten. Dann schritt ich durch mein Zimmer und öffnete ihm die Tür. Als er mein Gesicht sah verfinsterten sich seine goldbraunen Augen. „Der gnädige Herr?“
Ich nickte schweigsam. Bishop war der Einzige im Haus, der sich für mich zu interessieren schien. Für mich war er so etwas wie ein Großvater.
„Geleiten Sie mich doch in die Küche. Ich werde Ihnen etwas zum Essen zubereiten.“, schlug Bishop vor und führte mich über den Angestelltenflur direkt in die geräumige Küche des Southmore-Anwesens. Dort bereitete er mir aus ein paar Eiern und zerkleinertem Gemüse ein leckeres Omelett, welches ich gierig herunter schlang. Ich hatte ja auch seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und dabei aß ich für mein Leben gern.
Bishop stellte vor mir eine Tasse mit frischem Zitronen-Tee  auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber.
„Warum diesmal?“, fragte er nachdem ich meinen leeren Teller weggeschoben hatte und einen Schluck Tee getrunken hatte.
Stumm stellte ich die Tasse vor mir ab und blickte auf die gewellte Oberfläche. „Ich bin in die Schule eingebrochen.“
Bishop blickte mich an. „Warum?“
Ich wollte nicht weiterreden. Sonst hätte ich Clin und Woody verraten. Meine Freunde. Und Bishop mochte sie nicht. Sie schienen ihm zu falsch, wie er sagte. Also schwieg ich. Doch Bishop schüttelte nur den fast kahlen Kopf.
„Junges Fräulein, Ihre Freunde Clinton und Bryan sind keine Ihrer Freunde.“ Er machte eine kurze Pause und blickte mich ernst an. „Sonst wären sie nicht abgehauen. Davon geh ich zumindest aus, habe ich Recht?“
Mit einem zaghaften Nicken bestätigte ich ihn, blickte ihn jedoch nicht an. Sonst würde er womöglich noch fragen warum ich dann mit Clin und Woody abhing. Doch stattdessen erhob sich der Butler und verließ die Küche. Ich blickte ihm fragend nach doch er kam wenige Sekunden wieder zurück mit einem Brief in der Hand.
„Der kam vor ein paar Tagen an.“, sagte er und legte den Briefumschlag vor mir auf den Tisch. Neugierig zog ich den Brief zu mir heran und betrachtete ihn. Den letzten Brief den ich bekommen hatte war von der Polizei. Wegen einem Graffiti von Clin, als Mittäterin.
Der Briefumschlag sah sehr formell aus und hatte ein Wappen in der linken oberen Ecke. Ein Kreis in blau mit einem geschwungenen silbernen N, dass ihn überlappte. In den vier blauen Bereichen, die das N voneinander abtrennte, waren eine Art komischer Pfeil rechts, ein waagerechter BH-Verschnitt ohne Zugband ganz oben, eine Traube mit einer dünnen Spitze im unteren Bereich sowie eine Spirale im Linken – alles in Silber.
Mein Name stand in blauen geschwungenen Buchstaben auf dem Umschlag aber ich fand nirgends einen Absender. Mit einem Fingernagel begann ich den Briefumschlag aufzureißen und zog den ordentlich gefalteten Brief heraus.
Herzlichen Glückwunsch!
Sie, Miss Clementina Raven Anna Southmore, haben unter Tausenden von Bewerbern eins der begehrten Stipendien für das Neria-Internat in Deutschland erhalten.
Innerhalb weniger Tage nach Erhalt dieses Briefes werden Sie, soweit Sie nicht vorher abgelehnt haben, von einem unserer Mitarbeiter am Flughafen Paderborn in Deutschland abgeholt.
Tickets wurden am Flughafen ihrer Nähe für Sie hinterlegt. Der Flug geht am 14. April dieses Jahres um 17:30.
Alle Schulsachen werden von unserer Schule gestiftet.
Auf ein baldiges Treffen,
Samuel Eberich Purrey
(Schulleiter)
 
Verwirrt blinzelte ich. „Bitte was?“
Bishop lugte über den Tisch auf den Brief und sagte dann: „Sie haben ein Stipendium für das Internat, auf dem Ihre Mutter bereits war, erhalten, junges Fräulein.“
„Meine Mutter?“, fragte ich den Butler und blickte ihn an. „Wollen Sie damit sagen, dass meine Mutter auf diesem Neria-Internat war?“
Bishop nickte. Und ich hatte meinen Entschluss gefasst.

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